ERFA-Tagung 2023: Der Bericht

babyboomer prägen die AlterSpolitik der nächsten Jahre

Netzwerktagung von ProSenior Bern weist den Weg zur altersfreundlichen Gemeinde

Wenn in Kürze die Babyboomer-Generation das hohe Alter erreicht, müssen Gemeinden und Institutionen gewappnet sein: Der Betreuungsbedarf wird ansteigen bei gleichzeitigem Mangel an Fachkräften, geeignetem Wohnraum und knappen Finanzen. Diese Umstände erfordern umsichtige Planung, Zusammenarbeit auf allen Ebenen und Koordination.

 

In der Alterspolitik gibt es eine Fülle von Konzepten und Leitbildern; praktisch jede Gemeinde im Kanton Bern hat ihre eigenen Grundsätze. Der Kanton Bern überlässt das Thema Alter gerne den Gemeinden, hat er doch seine Alterspolitik seit 2016 nicht mehr erneuert. So herrscht bei den Konzepten auf Gemeindestufe enorme Vielfalt: In Städten oder ländlichen Gebieten können sich die Schicksale der alternden Menschen erheblich unterscheiden.

 

ProSenior Bern hat deshalb an seiner jüngsten ERFA-Tagung im Eventforum Bern den Verantwortlichen in den Gemeinden Orientierungshilfe geboten. Denn auf sie warten grosse Aufgaben: Die Babyboomer – die Nachkriegsjahrgänge 1946 bis 1964 – kommen jetzt ins Alter. Der Anteil der Personen ab 65 Jahren steigt schneller an als die Anteile der jüngeren Altersklassen mit einschneidenden Folgen für Betreuungsinstitutionen, Gesundheitssystem und Arbeitsmarkt, insbesondere aber für das gesamte politische und gesellschaftliche System. Denn die Babyboomer zeichnen sich auch durch Leistungsbereitschaft aus, weshalb Gesellschaft und Politik bei ihnen einen bedeutenden Output abholen können. Zudem handelt es sich um Generationentypen, die nachdrücklicher Bedürfnisse artikulieren können als die älteren Generationen vor ihnen.

 

Die Alten sollen mitbestimmen

 

Der volle Saal des Eventforums Bern widerspiegelte die Aktualität. ProSenior-Präsidentin Ursula Zulauf kritisierte in ihrer Begrüssung eine fehlende aktuelle und moderne Altersstrategie des Kantons Bern, obwohl gerade jetzt zukunftsgerichtete Leitbilder gefragt seien. «Das Alter ist im Organigramm der kantonalen Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektion nicht einmal mehr ersichtlich.» Die Alterspolitik in der Schweiz richte sich stark nach Versorgungsplanungen, Alterseinrichtungen, Pflege und Betreuung aus, sagt sie weiter. «Wo, wann und wie spielen aber die jungen Alten eine Rolle? Was kann eine Gemeinde den fitten jungen Alten anbieten: An bezahlter Arbeit, an geeigneten Wohnformen, an Dienstleistungsangeboten, an Einbezug in die Gestaltung des hohen Alters dieser jungen Alten?», fragte Zulauf.

 

Nach Meinung von ProSenior müssten die heutigen jungen Alten – die Babyboomer also – ihre Gegenwart und eigene Zukunft massgeblich mitgestalten können, «besonders dort, wo sie leben, in ihrer Gemeinde, in ihrer Region». Diese Babyboomer-Jahrgänge haben auch im Alter konkrete Vorstellungen zu ihren Bedürfnissen. Sie sind weiterhin bildungshungrig. Viele wollen weiterarbeiten, aber bezahlt. Sie sind digitalisiert. Sie wollen das hohe Alter mitgestalten. Sie wünschen Versorgungsinfrastrukturen, Gesundheitsinfrastrukturen, kreative öffentliche Räume, einen sorgfältigen Umgang mit der Umwelt, Mobilitätsangebote, freie und freiheitliche Lebensgestaltungen, die ihren Bedürfnissen entsprechen.

 

Ambulant, intermediär, stationär

 

An Planungsgrundlagen fehlt es eigentlich nicht, hingegen an Kooperation, Koordination und Umsetzung in die Praxis. Jürgen Stremlow, Dozent und Projektleiter am Institut für Sozialmanagement, Sozialpolitik und Prävention der Hochschule Luzern, ist ein ausgewiesener Forscher in Sozialplanung. Er brachte viele nützliche Denkanstösse mit, die Gemeinden helfen können bei der Gestaltung ihrer Alterspolitik mit dem einfachen Ziel, das Leben alter Menschen so lebenswert wie möglich zu machen. «Ein Ort soll zum Sein und Bleiben einladen», so Stremlow. Seine Forschung gründet auf dem Leitfaden für altersfreundliche Städte der Weltgesundheitsorganisation WHO sowie auf ein gemeinsames Forschungsprojekt in ausgewählten Städten und Gemeinden. Stremlow benennt diverse Problem- bzw. Handlungsfelder: Für die Betreuung durch Angehörige oder Nahestehende brauche es Entlastungsangebote, mehr Unterstützung und finanzielle Hilfe. Ambulante, intermediäre und stationäre Angebote müssten besser koordiniert werden. Weitere Dauerbrenner sind der Fachkräftemangel in der Pflege und bei Ärztinnen und Ärzten sowie der bezahlbare Wohnraum für ältere Menschen. Laut Stremlow werden diese bei der Mitgestaltung der Alterspolitik zu wenig einbezogen; es fehle oft an gemeindeübergreifender Zusammenarbeit.

 

Elf Gemeinden arbeiten zusammen

 

Diesbezüglich gibt es jedoch auch positive Beispiele: Die Region Gantrisch etwa, wo sich zu Beginn der Pandemie 2020 elf Gemeinden zum Verein Altersnetzwerk zusammen-geschlossen haben. Die Grüne Schwarzenburger Gemeinderätin Kathrin Sauter, Vorstandsmitglied des Netzwerks, nannte die Vorteile dieser Organisationsform: die schlanken Kommunikations- und Entscheidungswege, den partizipativen Ansatz, die Zusammenarbeit und Begegnung «auf Augenhöhe» sowie den finanziellen Handlungs-spielraum. Zudem erlaube diese Struktur den Einbezug weiterer Organisationen. Inzwischen haben sich dem Verein fünf Kirchgemeinden, das Spital Riggisberg, die SPITEX Gantrisch, sowie Pflegeheime und Privatpersonen angeschlossen. Der Verein beschäftigt eine 40-Prozent-Mitarbeiterin für Information und Koordination und betreibt die interaktive Plattform FranzundVroni.ch. So werde Alterspolitik ihrer Funktion als Querschnittsaufgabe gerecht, betonte Sauter. «Der Verein gibt der Alterspolitik ein Gesicht, beteiligt sich bei Mitwirkungen und ist in der Gemeindepolitik gut verankert.»

 

Welche Gemeinde macht es am besten? Christine Hubacher, Moderatorin bei Radio SRF1 und Moderatorin der Netzwerktagung, stellte die Preisfrage. Denn der guten Beispiele gibt es einige. Einen guten Überblick bot Simon Stocker, Co-Leiter der Fachstelle Alterspolitik Gerontologie Schweiz. In seiner Funktion besuchte Stocker zahlreiche Städte und Gemeinden der Schweiz. Seine Vision: eine altersfreundliche Schweiz bis 2030. Mit seiner gewinnenden Art ist Stocker gewiss der richtige Mann zur Umsetzung dieses ambitionierten Ziels: «Wir versuchen, positive Impulse zu geben.» Stocker weiss, unter welchem Druck Gemeindeverwaltungen stehen, sollen sie doch nicht allein die Seniorinnen und Senioren bedienen, sondern auch Kinder und Jugend, Bauern und Berufstätige, Kranke, Menschen mit Beeinträchtigung, Arme, die migrantische Bevölkerung. Der Service Public muss Vielem gerecht werden. Unter den 2200 Gemeinden in der Schweiz gibt es 2000 Miliz-Exekutiven und kleine Verwaltungen mit vielen Unterschieden und Eigenheiten, aber: «Wir können voneinander lernen», betonte Stocker. Er erwähnte Vorbilder aus dem Kanton Schaffhausen: die Gemeinden Merishausen zum Beispiel mit 863 Einwohnenden. Die Gemeinde leistet sich eine 50-Prozent-Stelle für Gesundheit und Alter in der Gemeindeverwaltung.

 

Hoppla, da spritzt Wasser

 

Auch die Gemeinde Lyss hat Vorbildliches zu bieten. Das Regionalzentrum mit 16'000 Einwohnenden im Seeland kooperiert in der Altersplanung mit möglichst vielen Akteuren der Region. Besonders stolz zeigte sich Stefan Bütikofer, SP-Gemeinderat für Soziales und Gesellschaft sowie Grossrat, auf den «Hoppla-Parcours», wo regelmässig Generationen verbindende Aktionen stattfinden. Am Platz gibt es Wasserfontänen, die auf Bewegung reagieren. Die Bewegungsstunde ist offen für alle Interessierten und kostenlos. Ziel sei es, über Bewegung, Spiel und Spass die Gesundheit – physisch, psychisch und sozial – zu stärken, so der Beschrieb.

 

«Wer ist noch auf der Lohnliste?»

 

Der Weg zur altersfreundlichen Gemeinde funktioniert nur mit Kooperation und Mitwirkung. An der Fachtagung anwesend waren viele Personen mit Fachwissen, heutige und ehemalige Mandatstragende. Der Einbezug einsamer oder schwer erreichbarer Menschen, die Gestaltung öffentlicher Räume, Erhaltung der Mobilität, das Stigma der Altersheime, geeignete und günstige Wohnangebote, Erwerbsmöglichkeiten für Pensionierte, Mangel an Geld und medizinischer Versorgung: Die Liste der Aufgaben und Herausforderungen im Altersbereich ist lang. Doch gab es an der Fachtagung und beim anschliessenden Podiumsgespräch auch Lichtblicke. Moderatorin Christine Hubacher richtete eine Frage an die über 65-Jährigen: «Wer ist noch auf der Lohnliste?» Einige Hände schnellten nach oben. Da meldete sich zum Beispiel der 70-jährige Epidemiologe, der bis Ende 2022 Aufträge für den Bund erledigte – der Pandemie sei gedankt. Oder der 77-jährige Fotograf, der Grossanlässe dokumentiert und hin und wieder für die Gemeinde Münsingen arbeitet. Dass die öffentliche Hand allerdings über 65-Jährige beschäftigt, ist nicht die Regel.

 

Die ehemalige SP-Grossrätin und Gerontologin MAS, Elisabeth Striffeler, arbeitet heute ehrenamtlich in Stiftungsräten, Seniorenräten und für ProSenior. Was sie aber als störend empfindet, sind die Folgen dieser Freiwilligenarbeit: «So spart der Kanton auf unserem Buckel die Kosten für seine Alterspolitik.» Doch manchmal bewirkt Freiwilligenarbeit auch im Kleinen etwas, wie Striffeler berichtete: Der zentralste Platz in Münsingen, wo Busverbindungen durchführen, befindet sich seit Monaten im Umbau. «Da gab es bis vor Kurzem keine einzige Sitzbank!» Mit einem Anruf an die Gemeinde konnte Striffeler immerhin bewirken, dass nun eine Bank hingestellt wurde, allerdings immer noch ohne Wetterschutz. So lässt man Betagte im Regen stehen – sprich sitzen.

 

Das Fazit der Tagung fällt wohl durchzogen aus: Einige Gemeinden haben die Note «altersfreundliche Gemeinde» längst verdient, andere befinden sich noch auf dem langen Weg. Und so erreichen auch viele Altersleitbilder jetzt das hohe Alter und brauchen eine Auffrischung.

 

Wie der Kanton vorangehen könnte

 

ProSenior Bern vertritt die Meinung, dass der Kanton mit einer aktuellen, zukunftsgerichteten Altersstrategie, die auch entsprechende Investitionen für die wachsende ältere Bevölkerung beinhaltet, vorangehen und damit die Gemeinden unterstützen muss.

 

Wenn es dem Kanton an Kapazitäten oder politischem Willen fehlen sollte, bietet sich an, Arbeiten an einer neuen Alterspolitik zu delegieren, zum Beispiel mit der Einsetzung eines kantonalen Seniorenrats, zusammengesetzt aus Vertretungen der Regionen aus allen Verwaltungskreisen. ProSenior kann sich vorstellen, hier ebenfalls mitzuarbeiten oder aber mit Einsetzung von Seniorensessionen, die direkte Vorstösse ins Kantonsparlament einreichen können.

 

Daniel Vonlanthen

Ursula Zulauf